Ich betrat ihn erstmals, da waren die dunklen Abende schon weit in den Tag hineingewachsen, die Birkenscheiter im Kamin ließen heiteren Feuerschein in den stillen, hohen, holzwarmen Raum tanzen. Seither bin ich regelmäßig zu Gast, lasse mich umhüllen vom ruhigen, schwebenden Ernst einer Atmosphäre aus Sorgsamkeit und Sinn fürs Schöne; zufällig ist hier nichts, harmonisch alles. Kein Gedanke hat ausreichend Schwere, keine Sorge ausreichend Gewicht, als dass sie nicht in Schwerelosigkeit gehoben würden und in solcher auch blieben, gleichwohl fertig gedacht oder eine Lösung zugeführt, doch im Banne einer ruhig und stetig atmenden Gelassenheit.
Mein Speisesalon: in unaufgeregter, selbstverständlicher Freude fühle ich mich jedes Mal erwartet. Der Esstisch ist gedeckt, schlicht und stilvoll, Erdtöne auch hier wie im ganzen Raum, als Farbtupfer nur die einzelnen Rosen im hohen Glas oder, wie gestern, die rote Kerze im duftenden Tannenreis. Leinenservietten auf dunklen Platztellern, Weingläser aufgereiht, in Schüsselchen zur Seite gestellt, was an Zusätzlichem vonnöten ist. Auf vorgewärmten Tellern, weiß, nichts anderes passte hier, kommen die Gerichte in untadeliger Manier zu Tisch. Der Ausdruck im Optischen aber ist nichts anderes als die Folge einer Stimmigkeit im Inneren, das gilt a u c h für die Speisen. Die Sorgfalt bei Produktwahl und Zubereitung würde vielen professionellen Stätten wohl zu Gesicht stehen, das reicht vom Pfefferkorn bis zum Knurrhahn. Vor allem aber bedarf es keiner spektakulären Rezepturen, um diese Klarheit in Geschmack und Präsenz zu erreichen, wohl aber Hinwendung und Achtsamkeit.
Der Knurrhahn also, über pikantem Tomatengemüse im Dampf gegart, war in der ganzen Kraft seines Fleisches erfahrbar, die genaue Zubereitungsart der Erdäpfelscheibchen dazu blieb, ebenso wie die detaillierte Zusammensetzung der Tomaten, Küchengeheimnis. Dazu gab es einen Tocai friulano 2001 sowie das
Violinkonzert von Sibelius. Sibelius, allerdings die zweite Symphonie, erklang wiederum vor Wochenfrist zum Garnelenfondue, als Wein ein Lugana 2005 Ca’ dei Frati; gestern ein anderer Lugana, Fattoria S.Cristina, um einiges lebendiger und somit auch hervorragend zum Hecht blau passend – die beiden Tiere sahen, wiewohl so ganz und gar nicht mehr am Leben, noch ziemlich keck aus! Und bedurften keiner weiteren Würzung, nicht einmal Salz (Fleur de Sel, was sonst), der aromatische Gemüsesud hatte ihnen genügend an Intensität mitgegeben. Allerdings: die leicht gebräunte Butter verlieh noch weiteren Glanz und Geschmeidigkeit. Und da der Tag mit seiner langen
Wanderung schon ausreichend glückhaft gewesen war, wurden, um nicht allzu sehr ins Adventkitschige abzudriften, Männerstimmen gehört: Joe Cocker,
Bob Dylan, Leonard Cohen. Das abschließende Auskratzen der Fischwangerl, in der geordneten Umgebung des Kochbereiches stehend, gehörte schon seit dem Knurrhahn zum fröhlich-kommunikativen Abschluss eines Fischmahles.
Doch auch Fleisch hält mein Speisesalon bereit: der „Hausklassiker“ Djuvec bezieht seine ultimative Geschmacksgültigkeit aus den richtigen Tomaten und einer speziellen Gewürzmischung, ein saftiges Stück Schopf ist nur die notwendige Abrundung. Und um einen
Casalferro 1997 trinken zu können, wurde – perfekt saignant – ein Steak gebraten, das Fleisch von ausreichend natürlicher Würze, sodass mehr als die Café de Paris-Butter nicht vonnöten war. Die Erinnerung an die Beilagen jedoch ging unter dem Eindruck von Richard Strauss’ Heldenleben verloren, nein, halt! Blattspinat, das war’s, ein weiteres Beispiel für die wohlüberlegte Würzkunst des Salonchefs.
Doch der schönste Salon ist nichts ohne seine Gespräche; sie tragen aus der Geborgenheit einer kulinarisch-musikalischen Intimität hinaus in die ebenso notwendige Weite an Gedanken- und Lebenswelten. So geschieht ein Wandern durch Jahre und Erfahrungen, die Intensität des Augenblicks ist eingebunden in ein umfassenderes Wahrnehmen dessen, was Leben ausmacht, der Tod kommt ebenso vor wie die Musik und die Freude.
Wir leben, ‚eingerollt’ im Augenblick und zugleich im Zeitstrom von Millionen Jahren.
(Alexander Kluge)
„Tür an Tür“, Teller an Teller, Glas an Glas und auch Haut an Haut
„mit einem anderen Leben“, das sich ausbreitet wie ein Kreisrund ohne Grenzen, eine in einem unendlichen Raum schwebende Fläche, auf der der Erzählende von einem Lebensstück zum anderen wandert; wie Figuren auf einem Spielbrett sind die einzelnen Situationen samt ihren Irritationen, ihrer Verstörungskraft, ihrer Rätselhaftigkeit und ihrem Glückspotential aufgestellt, da ist nichts Chronologisches darin, und so erfolgen die Spaziergänge immer aus einer Fragestellung des Augenblicks heraus. Selbst aber bleibt dieser Mensch als Person im Jetzt, wiewohl berührt, geformt, geführt von allem, erhaben, heraus
gelöst; in sich geborgen, was gewesen, trägt er sich selbst, ohne zu knicken und steht ganz nah, das Lebensrund als Hintergrund.
Alexander Kluge:
Tür an Tür mit einem anderen Leben