Dienstag, 27. Juni 2006

Die gelbe Tasche

Eine mit mir in beruflichem Zusammenhang stehende Frau fertigt nebenher Taschen. Für eine Vernissage vergangene Weoche bat sie ihre Freunde um Geschichtenspenden zu den jeweiligen Taschenkreationen. Ich bekam eine große gelbe Tasche, so wie früher die Posttaschen waren, zugeteilt. Ich hatte für die Geschichte nicht viel Zeit; der Strand von Marina di Ravenna (bzw. das sich dort abspielende ununterbrochene Nahrungs- und Getränkeaufnahmeerlebnis) waren nicht ausreichend inspirierend, nicht so wie ich gehofft hatte. Und so blieben mir tatsächlich nur eineinhalb frühe Morgenstunden für das Niederschreiben. Heute erhielt ich endlich Rückmeldung: eh kloa, hod ihr gfoin!

Felicitas und die gelbe Tasche

Felicitas saß an ihrem schattigen Platz im Garten, hinter der hohen Hecke aus blühenden Sträuchern von der Welt draußen getrennt, und atmete tief den süßen Duft ein, der über der ganzen Umgebung lag. Die Lindenbäume entlang der Straße standen in letzter Blüte, die Süße hatte im anhaltend warmen Wetter eine honiggleiche Intensität erreicht. Felicitas lehnte sich zurück, schloss die Augen und wollte sich gerade in eine sanftere Welt träumen, wo es keine Rollstühle gab, keine spottenden Kinder, keine mitleidige Mutter, als die flirrende Nachmittagsstille von einem unerwarteten Geräusch unterbrochen wurde: erst ein scharfes Quietschen, dann ein dumpfer Knall, und in diesem Augenblick flog eine große gelbe Tasche in hohem Bogen über die Hecke. Felicitas blickte mit offenem Mund nach oben: wie ein merkwürdiger Vogel, der einen schweren Flügel majestätisch bewegt, den Trageriemen als verschlungenen Schwanz steuernd in Bewegung, schwebte die Tasche über ihr, und Hunderte Zettel und Briefe und Prospekte flatterten wie ein aufgeregter Schwarm kleiner Vögelchen drum herum. Dann fiel die Tasche genau vor die verbogenen Füße des Mädchens, sehr plötzlich und sehr direkt, als hätte sie sich diesen Platz ausgesucht. Im Bücken spähte Felicitas für einen kurzen Moment durch ein Loch in der Hecke: ein Fahrrad lag zerbeult neben dem Stamm einer Linde, sie sah auch die Kühlerhaube eines Autos, und ein Mann in blauer Uniform lag seltsam verrenkt davor. Sein Gesicht war ihr zugewandt, es ähnelte dem ihres Vaters, und in diesem Augenblick glaubte sie zu sehen, wie er ihr unter dem Blut, das von seiner Stirn sickerte, zuzwinkerte. Mit einem Ruck setzte sich Felicitas wieder auf: das Szenario ihres eigenen Unfalls blitze bedrohlich aus der Erinnerung auf. Wie hatte sie den Vater damals gerüttelt, um ein Lebenszeichen gebeten, umsonst! Ganz vorsichtig bückte sie sich noch einmal – doch inzwischen waren schon Menschen herbeigeeilt, deren Geschäftigkeit die Sicht verstellte. Aber sie war sich sicher: der Mann hatte gezwinkert, und dieses Zwinkern hat ihr gegolten. Sie starrte verloren auf die gelbe Tasche zu ihren Füßen: bewegte sich da nicht etwas? Ja, tatsächlich, diese stand auf dem Rasen, als wäre sie prall gefüllt, hatte seltsame Beulen, die sich hin und her bewegten, und man konnte ein immer intensiver werdendes Gemurmel und Gewirr hoher Stimmchen vernehmen. Wie gebannt blickte Felicitas auf die Tasche und traute ihren Augen kaum, als nach und nach kleine Männchen mit bunten Zipfelmützen aus ihrem Inneren entstiegen, genau sieben an der Zahl waren es, und sie sprangen auf die Fußstütze des Rollstuhls, machten sich an den nackten Füßen des Mädchens zu schaffen, die so nutzlos in die warme Sommerluft ragten. „Seht doch mal, was für hübsche zarte Zehen!“ rief da einer der Zwerge - denn solche mussten sie sein - und ein zweiter strich sanft darüber und meinte: „Ja und diese glänzenden Zehennägelchen!“ Mit großem Geschick turnten die sieben Männchen an den dürren Beinchen empor, und fast vermeinte Felicitas ein leichtes Kribbeln zu spüren, aber in ihrem Staunen und ihrer Aufregung muss sie sich da getäuscht haben. Auf dem Schoß angekommen, sahen die Zwerge ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Sie schloss reflexartig die Augen. Die Narben, die das zersplitternde Glas hinterlassen hatten, waren kein schöner Anblick, das wusste sie. Doch die Zwerge schienen unbeeindruckt, hatten ja selbst ganz zerknitterte Gesichtlein. „Hallo, du da oben, wer bist du denn, was machst du da, mach doch die Augen auf, ja, seht nur, was für leuchtend grüne Augen, und diese dunklen Haarlocken, das muss ein Spaß sein, darin herumzuturnen!“ – „Bloß nicht!“, rief Felicitas vor Schreck, denn tatsächlich war diese Haarpracht ihr einziger Stolz, aber als sie in die schelmischen Gesichter der Sieben blickte, musste sie lauthals lachen. „Ei und die hübschen weißen Zähnchen, wie Perlenschnüre zwischen den roten Lippen!“ riefen sie voller Begeisterung und begannen auf dem Schoß des Mädchens herumzutanzen. In diesem Augenblick sah Felicitas die Mutter mit dem ewig besorgten Blick nahe kommen. Mit einem entschlossenen Griff schnappte sie die Tasche, packte die verwirrten Zwerglein und stopfte sie hinein, verstaute die Tasche hinter ihrem Rücken und blickte wie gleichgültig auf die Hecke. „Kind, komm doch da weg, das ist nichts für dich“, jammerte die Mutter und schob den Rollstuhl in Richtung Haus. Felicitas lächelte verstohlen vor sich hin. Im Rücken konnte sie die turnenden Zwerge in der großen gelben Tasche spüren. Sie war nicht mehr allein.

Sein erster Chopin

Das Einzelstunden-Klavierjahr meines Sohnes hat durchaus Ergebnisse gezeitigt: jetzt kann ich seine Stücke nicht mehr einfach vom Blatt spielen, sondern muss schon mitüben. Und bei den vierhändigen Stücken bekomme ich immer den schwierigeren Part. Aber mit ihm gemeinsam zu musizieren erfüllt mich mit Stolz und Freude. DAss er mich überhaupt dazulässt!

Er übt Chopin. Ich übe Schumann.

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uferlos - 2011-10-08 00:28
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ConAlma - 2011-10-07 11:40
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rinpotsche - 2011-10-07 00:37
!
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sang und klanglos :-(
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