einfach zum nachdenken

Montag, 13. März 2006

Lesen gefährdet das Leben

Meine Lehrerin-Freundin hat für ihre Kinder immer den Spruch bereit: "Wer lesen kann, ist besser dran." Das mag ja in einigen praktischen Belangen durchaus seine Berechtigung haben, unterwegs in fremden Landen zum Beispiel, wenn man hungrig nach dem besseren Lokal Ausschau hält und die Speisenkarte aber nicht entziffern kann. Obwohl, in solchen Fällen hat sich Gespür und ein Blick aufs Publikum schon sehr oft bewährt.

Gebrauchsanweisungen bleiben trotz Lesenkönnens unverständlich, nach Straßen kann man fragen, überhaupt finde ich, sollte das Gespräch viel mehr in den Vordergrund gerückt werden. Kennen Sie die aktuelle Werbung eines Mobiltelefon-Anbieters? Zwei junge Menschen an einer Bar, wortlos. Gelangweilt. Und dann der Spruch: Wozu reden, wenn man smsen kann ... oder so ähnlich. Haben Sie schon mal versucht, sms in einem schummrigen Lokal zu entziffern? Da nützt Lesenkönnen auch nix.

Ich konnte schon sehr früh lesen. Noch vor dem Schuleintritt. Meine Eltern haben das als Beweis besonderer Intelligenz gewertet. Im Nachhinein betrachtet finde ich, dass dieses Lesenkönnen-Wollen nur ein Ausdruck meiner Einsamkeit war. Niemand sprach mit mir, meine jüngeren Geschwister hätten dies vielleicht gern getan, verfügten aber nicht über ausreichend Worte. Zu jenem Zeitpunkt. Also fiel ich in die Welt des Lesens, der Bücher. Die spärlichen Kinderbuchregale der Städtischen Bücherei in der Rabengasse hatte ich ziemlich schnell hinter mich gebracht; zum Glück übersiedelten wir in einen anderen Bezirk. Aber auch dort war die Bibliothekarin bald verzweifelt auf der Suche nach passender Lektüre für eine 10jährige. In den Büchern fand ich mich zurecht. Im Leben draußen war ich schüchtern, naiv, immer etwas abseits. Nie gehörte ich wirklich wo dazu.

Irgendwann las ich kaum mehr, versuchte um so mehr zu leben. In vollen Zügen, wie man so schön sagt. Damals aber begann die Zeit des Denkens. Wenn ich gerade nicht lebte, dachte ich. Dieses Denken war der Ersatz für Bücher, da befand ich mich in der Sprache und damit in der Sicherheit meiner Einsamkeit.

Heute würde ich gerne mehr lesen, ganze Bibliotheken hätte ich aufzuholen! Es reicht nur selten für ein ganzes Buch, wohl aber für Geschichten über Bücher. Das ist gefährlich genug. Da bleibt man an einzelnen Sätzen hängen, die verfolgen einen dann, prägen die Stimmung eines Tages, mehrerer Tage. Solche Sätze beeinflussen die Beziehung zu den Menschen rundum.

"Seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, bin ich fest überzeugt, dass es die Wirklichkeit nur dann gibt, wenn es mir gelingt, sie in Worte zu fassen." * - Immer noch kann ich stundenlang über einem solchen Satz hängen und zurückverfolgen, dass er mich seit je durch mein Leben begleitet hat.

Wenn ich mich gerade nicht mit der Sicherheit eines gelesenen Satzes oder eines eigenen Gedankens, der nicht selten durch einen gelesenen Satz hervorgerufen wird, umgebe, dann dringen Sätze von Menschen zu mir vor, die mich erreichen wollen. Diese Sätze aber bringen mein Gleichgewicht durcheinander. Ich weiß nicht mehr, woran ich mich halten soll. Ich stehe somit dem Leben hilflos gegenüber. Bis ich mich wieder an einem gelesenen Satz aufrichte.

Sie sehen also, Lesen gefährdet das Leben.


* Zitat Paul Nizon

Samstag, 11. März 2006

Ich werde mein Vater

Wenn ich mir im Spiegel ungeschminkt ins Antlitz schaue, die Spuren von Müdigkeit verfolge, den Kopf etwas senke, die hängenden Wangen betrachte und die anderen erschlaffenden Partien, die grauen Haare fest nach hinten streife und mir mehr Augenbrauen dazu denke, sehe ich meinen Vater vor mir.

Ich werde mehr und mehr mein Vater, denke ich mir dann, und es ist nicht nur das Gesicht, das unverkennbar darauf deutet, nein, die Haltung, der Gestus, die Sprache, das Zelebrieren des Auftrittes, in fast allem meines Tuns kann ich meinen Vater verfolgen. Und auch: in dem, wie ich Menschen in meinem Leben zulasse. Wieviel meiner Zeit ich zur Verfügung stelle. Ich sehe es und möchte anders verfahren und kann doch nicht.

Als ich meinem Vater das letzte mal begegnete, erzählte er von seinen Freundinnen: die eine ist 50, mein Alter in etwa. Die andere 60, geistig inspirierend und vorwärtstreibend. Mein Vater ist demnächst 83. Sie lieben mich, sagt er, sie lieben mich immer, und ich habe doch nur so wenige Nachtstunden übrig, die anderen gehören meiner Arbeit.

Ich versuche mir vorzustellen: was mache ich mit fast 83? Eine Form von Arbeit wird es geben, dessen bin ich mir gewiss. Welche Zeit aber werde ich für die nahen Menschen um mich haben? Wenn es sie denn geben wird?

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