Freitag, 4. Mai 2007

Dem Andenken eines Engels

Freitag, vierter Mai zweitausendundsieben, Wiener Konzerthaus. Generalprobe Nikolaus Harnoncourt und Wiener Philharmoniker, Gideon Kremer. Siebte Beethoven und Alban Berg Violinkonzert.

Es ist, so bin ich überzeugt, die erste Probe die ich höre, seit ich selbst aufgehört habe, in einem Orchester zu spielen. Ich sitze da, als wäre es das Selbstverständlichste in meinem Leben, doch es ist ein unfassbares Geschenk, eines der vielen unfassbaren Geschenke, die ich bekomme, in diesem gegenwärtigen Leben voller Dankbarkeit und Staunen.

Bergs Violinkonzert, das Portrait wie Requiem für Manon Gropius, Tochter von Alma Mahler-Werfel. Mit den ersten Takten schon bin ich zurückversetzt in eine Zeit, als ich noch in der Vaterwelt ausharrte, mich in einem ungeliebten Studium versuchte, und einzig ein Lehrender meine Liebe zu wecken vermocht hatte: ein Seminar zur Wiener Schule, Schönberg-Webern-Berg. Es war die kurze Zeit meiner wenigen Opern-Besuche, Wozzeck, Lulu, Salome. Und ein Besuch in Hietzing, bei der Witwe Berg, ehrfurchtsvoll sitzen wir um den Tisch der alten Dame, lauschen ihren Erzählungen. Das Violinkonzert hatte sich tief in mir eingegraben. Heute warf es mich um, ich saß schutzlos da, völlig bloßgelegt. Der zarte Walzer, wie ein Elfenhauch hingetanzt, und dann der Choral, Bach,
Es ist genug! Herr, wenn es dir gefällt, so spanne mich doch aus …

Die Bläser spielen mit solcher Hingabe, danach Solovioline und erster Geiger in zartem Wechselspiel, und dann folgt die Auflösung, der Nichtton, noch nicht aber Nichts, ich bin geschüttelt, gänzlich durchlässig, mein ganzer Körper bebt.

Das Violinkonzert ist zugleich Bergs eigenes Requiem.

Harnoncourt als Dirigent: gänzlich posenfrei, Feuer und Leidenschaft ungeachtet des ästhetischen Werts der Bewegungen, diese aus der Hüfte herausschleudernd, wie ein Cowboy, fällt mir unwillkürlich ein.

Das Nichts kann man nicht behalten.

Versuch einer Rekonstruktion, modifiziert:

Hätte mir vor 30 Jahren jemand gesagt, ich würde irgendwann einmal in einem Schrammel-Konzert sitzen, ich hätte dies, zutiefst in Opposition zur Vaterwelt befindlich, als unvorstellbar von mir gewiesen. Eine Augenblickslaune aber hatte mich zu einer unbedachten Äußerung veranlasst und so gestern in eben ein solches Konzert geführt, ohne dass ich mir zuvor etwas hätte vorstellen können.

Der Beginn war schön, viel zu schön, akademisch schön, oder lag es an dem einen besonderen Instrument? So viel Vater-Tochter aber war ich wieder, oder bin ich immer gewesen, dass ich innerlich rief: diese Musik kann doch so nicht gespielt werden! Selbst dem Schubert hätte ich in diesem Kontext mehr Rauheit gegeben. Aber da waren auch die Texte, von Erwin Steinhauer ausgewählt und vorgetragen: H.C.Artmann, Karl Kraus, Armin Berg, Ödön von Horvath … Lachen evozierend, zunächst, doch so entblößend, böse, entlarvend.

Der zweite Teil wurde losgelöster, lebendiger, die Stimmung stieg mit jeder Polka, kulminierte in brillanten Geschichten aus dem Wienerwald. Und dann der Bruch: dieser eine (späte) Text von Ödön von Horvath, über den absoluten, reinen Gedanken, der nicht fassbar, nicht zu halten ist, und irgendwann wiederkehrt, erkannt als der Todesengel, als Friede, als das nicht festhaltbare Nichts. Im Programm sehe ich die Ankündigung für den Herbst, der erste Termin ist mit meinem Vater. Nächste Woche entscheidet sich, ob er wird dastehen können, und am liebsten wäre ich aufgesprungen, hinausgegangen, hätte appelliert an die Menschen im Saal: Bitte, freuen Sie sich darauf, so sehr Sie nur können, mit all der Kraft, die sie dafür haben – dann wird alles gut.

Im gesellschaftlichen Danach wurde ich zur Tochter mit der Theatermaske, und als ich sie endlich abnehmen konnte, musste ich alleine sein.

_____________________________________________________

An dieser Stelle sollte ein Eintrag von dieser Nacht stehen. Als ich auf "Veröffentlichen" ging, war er zur Gänze verschwunden; es war nicht das erste Mal, dass solches geschah. Die Uhrzeit wäre jene des Eintragbeginns gewesen.


Der Satz des Titels ist aus einer gestern gehörten Geschichte von Ödön von Horvath. Das Nichts ist darin der für den einzige wahren, reinen Gedanken gehaltene Friede, der als Todesengel kommt und dem nicht behaltbaren Nichts gleichgesetzt wird. Der Abend hatte mit Gedanken an meinen Vater begonnen und mit zunächst sehr angstvollen und dann ins Friedvolle übergehenden geendet. Und so war das Verwschwinden des Textes nicht mehr traurig.


Vielleicht ist später Zeit, den ursprünglichen Text aus dem Gedächtnis wieder abzurufen.

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