Öffentliche Stehlampe
An was denkst du?
An nichts, wenn es gelingt.
Als ich gestern aus dem abschließenden Dunkel des Theaters ins Münchner Abendlicht trat, dachte ich ungewohnt - nichts. Ich entfloh der Sommerabendbetriebsamkeit der Plätze, folgte meinen Füßen, die stillere Seitenwege suchten, und kam, einem leisen Klang folgend, in einen seltsam entrückt scheinenden Innenhof. Ich war wohl noch ganz im Stück gefangen, nahm, was um mich war, wie die Bilder eines ohne Ton abgespielten Filmes wahr. Zudem hatte sich ein leiser Schwindel meiner bemächtigt, der das Bild des Hofes zu bewegen schien. In dieser multiplen Bewegung ging ich zu den Tischen, sollte ich Platz nehmen?, das Licht der überdimensionalen Stehlampe schien so warm und tröstlich, rot, doch nicht blutrot, nicht wie der Mond der Marie.

Aber ich wollte nicht anhalten, wollte nicht aus der Bewegung fallen, aus der des Körpers wie aus der der Empfindung, nicht Teil des Filmbildes werden, das in dem Augenblick, wo ich es betreten hätte, klirrend zerbrochen wäre in eine nackte Wirklichkeit. Der blinde Cellospieler im Durchgang intonierte zu seltsamer Orgelbegleitung das Ave Maria, ich stürzte zurück in die vom Tage zurückgebliebene Hitze auf den Straßen.
Im Zug las ich dann:
Der Reifezustand des Subjekts bemisst sich nicht mehr an Fähigkeiten der Bedürfnis- und Umweltkontrolle, also insgesamt der Ich-Stärke, sondern an solchen Fähigkeiten der Öffnung für die vielen Seiten der eigenen Person, wie sie hier im Begriff der "Lebendigkeit" festgehalten werden. Wird die Persönlichkeitsentwicklung als ein Vorgang beschrieben, der sich in Schritten der Internalisierung von Interaktionsmustern als allmählicher Aufbau eines intrapsychischen Kommunikationsraumes vollzieht, so liegt eine derartige Neubestimmung des persönlichen Reifezustands auf der Hand: Als reif, als vollständig entwickelt muss dann dasjenige Subjekt gelten, das ein Potenzial an innerer Dialogfähigkeit, an kommunikativer Verflüssigung seiner Selbstbeziehung dadurch zur Entfaltung zu bringen vermag, dass es möglichst vielen Stimmen der unterschiedlichsten Interaktionsbeziehungen in seinem eigenen Inneren Gehör verschafft. Das Ziel der inneren Lebendigkeit, des intrapsychischen Reichtums hat, kurz gesagt, die Stelle eingenommen, die in der älteren Psychoanalyse die Vorstellung der Ich-Stärke innegehalten hatte.
Die innere Lebendigkeit jedoch, diese kommunikative Verflüssigung der Ich-Identität, die Entschränkung der inneren Dialogfähigkeit kann, so wird in weiteren Sätzen deutlich, auf Kosten der Fähigkeit zur Realitätsbewältigung zu gehen, wie sie der ich-starken "männlichen" Persönlichkeit zu eigen ist.
Die Entscheidung zwischen den zwei solcherart vorgestellten kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten aber: ist sie uns so bewusst möglich?
Beide Zitate stammen aus dem Begleitheft zum Münchner Woyzeck, das erste von Rainald Goetz, das zweite von Axel Honneth
ConAlma - 2007-07-16 15:27